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Aufwachen aus der Illusion über meine berufliche Zukunft mit Handicap
Geprägt von meiner ländlichen Herkunft war ich der festen Überzeugung, eine „Haushaltungsschule“ wie man diese Art von Schule am Land nennt, wäre genau das richtige für mich und im Anschluss würde ich eine Lehre zur Konditorin absolvieren. In diesem Beruf könnte ich dann meine Kreativität ausleben und irgendwie würde das dann schon klappen mit meiner Einschränkung. Zwei Wochen vor Schulbeginn wurde mir schlagartig klar, dass ich mit meiner noch immer deutlich eingeschränkten linken Hand für diesen Beruf wohl nicht wirklich geeignet wäre, abgesehen davon, dass mich so vermutlich auch niemand einstellen würde. Ein anderer Plan musste so schnell wie möglich her. Nicht gerade zur Freude meiner Mutter meldete sie mich wieder von der Schule ab.
Meine neue illusorische Vorstellung war es, im Verkauf arbeiten zu wollen.
So wählte ich die Handelsschule mit der Spezialisierung „Sales Managemet“. Dass auch einen ganzen Tag im Geschäft stehen bzw. das Herumfahren im Außendienst für mich unmöglich sein würden, stellte ich erst später fest. Und zwar unter anderem im Rahmen eines Schnuppertages in einer Parfümerie, der mit beinahe unerträglichen Rückenschmerzen endete. Zu meinem Entsetzen stelle ich immer mehr fest, dass so ziemlich alle Berufe die mir in den Sinn kamen, nun eigentlich nicht mehr möglich waren. Lediglich Büroarbeit, die so gar nicht mein Fall war, schien als die einzige Möglichkeit beruflich Fuß fassen zu können.
Es blieb das Problem mit den fehlenden Maschineschreibfähigkeiten
Mein Plan eine Schule zu wählen, in jener ich keine Unterrichtsfächer hätte, wo mich mein Handicap deutlich einschränkte, funktionierte nicht wirklich. Textverarbeitung stellte sich auch an dieser Schule als eine der größten Herausforderungen heraus. Ich startete an einer Handelsschule ohne auf irgendeine Weise Maschinschreiben zu können. Nicht gerade perfekte Voraussetzungen stellte ich fest. Die Versuche meiner Hauptschullehrerin im Textverarbeitungsunterricht meine linke Hand zu therapieren, wurde mir nun zum Verhängnis.
Zu meinem Glück sollte ich an der Handelsschule die beste Lehrerin in Textverarbeitung haben, die man sich nur vorstellen kann. Mit äußerst viel Zuwendung und Feingefühl brachte sie mir ein Ein-Hand-System bei, das mich nun fast so schnell werden ließ, wie manch anderer der mit beiden Händen schreibt.
„Einfach nur ein normales Mädchen sein“ – Mein Motto an der Oberstufe
Die enorme Angst davor, mit orthopädischen Schuhen noch mehr aufzufallen und zum Opfer von Mobbing zu werden, brachte mich dazu, sämtliches medizinisches Schuhwerk zu verstoßen. Auch die Therapie war ich mehr als Leid. Ich fühlte mich wie eine alte Frau, deren Leben nur von Arztbesuchen, Therapien und Hilfsmitteln geprägt war. Und ständig konnte ich irgendetwas wegen meiner Behinderung nicht machen. Stundenlanges durch die Stadt schlendern und Schaufenster bummeln, so wie es die anderen Mädchen in meinem Alter ständig machten, war für mich unmöglich. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich einfach nur unbeschwert sein, so wie es die anderen zu sein schienen.
Dass so vieles nicht mehr möglich war, auch mit Papas Krankheit immer im Hinterkopf, ließ mich langsam zermürben. Also setzte ich die rosarote Brille auf und wurde Meisterin der Verdrängung. Therapien wurden getauscht in Fitnesscenterbesuche, was meiner Meinung nach auch mehr Sinn machte. Für meine Mutter bedeutete dies jedoch mehr Kosten, was mir durchaus ein schlechtes Gewissen verursachte. Orthopädische Schuhe wurden in normale Sneakers gewechselt, was meinem Bein früher oder später ziemlich zu schaffen machte.
Ein einziger Gedanke war für mich dauerpräsent: Wie schaffe ich es an den gut aussehenden Burschen vorbeizugehen, ohne dass mein Hinken auffiel? Oder schaffe ich es zumindest nicht beschimpft zu werden? Während meiner Oberstufenschulzeit, passierte es mir das erste Mal, dass mir jemand „Du Krüppel“ nachrief. Und es passierte tatsächlich ein paar Mal. Jugendliche sind diesbezüglich nicht besonders zimperlich.
Neue Identität und Lehrer, die denken sie wüssten über dich Bescheid
Somit verpasste ich mir eine Identität, die mich unverletzbar zu machen schien – ein „Bad Girl Image“ sozusagen. Unerlaubterweise am Raucherhof zu sein, Schule schwänzen und mich mit Leuten zu umgeben, die wesentlich älter waren als ich bzw. vor denen sich andere eher fürchteten, wurde für mich zur Normalität. Ich gebe zu, dass im Alter von 14 Jahren lernen nicht gerade an erster Stelle meiner Prioritätenliste stand, vor allem Rechnungswesen wollte einfach nicht in meinen Kopf gehen. Meine unverletzlich wirkende Ausstrahlung verleitete jedoch auch immer wieder Menschen dazu, mich zu erniedrigen.
Als hätte ich mich nicht bereits genug gequält, bei dem Versuch mit den anderen Jugendlichen ohne körperlichen Einschränkungen mithalten zu können, gab es da noch den ein oder anderen Lehrer, der meinte er müsse dir erzählen, dass du es sowieso zu nichts bringen würdest. Man würde ohnehin als Bedienung in einer Fastfoodkette landen und somit wären seine Bemühungen uns etwas beizubringen sowieso aussichtslos. Danke Herr Prof. F., diese Aussage war wirklich sehr aufbauend für mich, 3 Jahre nach einem derart schweren Schlaganfall. *sarcasm off* Falls es als Motivation dienen hätte sollen, das hat es damals nicht! Mir wurde erst viel später klar, dass ich mehr in meinem Leben wollte. Auch meine Mutter scheiterte am Versuch ihm meine Situation erklären zu wollen.
Die Problematik mit den Hausschuhen in der Schule
Natürlich waren geschlossene Straßenschuhe im Schulgebäude nicht erlaubt. Mit den sogenannten „Schlapfen“ konnte ich nicht gehen und die hässlichen orthopädischen Treter wollte ich nie wieder anziehen müssen. So schrieb mir meine Ärztin eine Bestätigung, dass geschlossene Schuhe in der Schule zu tragen, für mich eine medizinische Notwendigkeit sei. Da es offensichtlich äußerst schwer war, sich das Gesicht dessen Mädchens zu merken, dass mit 11 Jahren einen Schlaganfall hatte, wurde ich immer wieder von manchen LehrerInnen, trotz Vorlage meiner Bestätigung, dazu aufgefordert, meine Schuhe auszuziehen, um diese genauestens begutachten zu können. Man musste ja nachsehen, ob sie wirklich nicht im Freien getragen wurden, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob man sich dabei vielleicht ein bisschen gedemütigt fühlte. Wäre das neben meinen SchulkollegInnen nicht schon genug Entwürdigung gewesen, musste ich auch noch jedes Mal erläutern, warum ich diese Behinderung denn genau nochmal habe. Diese Vorfälle taten nun wirklich nicht viel für mein Selbstbewusstsein, wie man sich vielleicht denken kann. Und so bröckelte meine Fassade munter vor sich hin.
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